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Magie und Schokolade

Magie und Schokolade – eBookLeseprobe

Manchmal denkst du, es kann nicht schlimmer kommen – und dann ist garantiert auch noch die Schokolade alle. Heute ist so ein Tag, und deshalb sitze ich nicht am Schreibtisch, sondern im Café nebenan und esse morgens um halb zehn Schwarzwälder oder besser gesagt, Harzer Kirschtorte mit dicker Borkenschokolade und extra viel Sahne. Man kann durchaus sagen, dass Zucker eine magische Wirkung auf mich hat, nicht allerdings auf meinen Laptop. Das Ding hat den Geist aufgegeben, was früher oder später alle elektronischen Geräte in meiner Umgebung tun.

»Mausetot«, hat der Techniker vorhin am Telefon das Ableben seines Schutzbefohlenen verkündet und dabei, für diese Uhrzeit und überhaupt, unangemessen fröhlich geklungen. Kein Wunder, denn er verdient gut an mir.
»Immerhin, die Daten sind gerettet, hat er gesagt. Für das neue Notebook habe ich zehn Prozent Stammkunden-Rabatt bekommen. Nicht übel, oder?« Das erwartete Lob bleibt aus, und ich frage etwas lauter: »Hörst du mir eigentlich zu?«

Tut sie nicht. Anna sieht durchs Fenster hinüber zum alten Waschhaus, in dem ich derzeit wohne. »Erwartest du Besuch?« Ihr Blick gleicht dem einer Wölfin auf der Pirsch.
Neugierig geworden stehe ich auf und schiebe die gepunktete Gardine zur Seite, um zu sehen, was ihren Jagdmodus angetriggert haben könnte, obwohl sie seit einem Jahr äußerst glücklich verheiratet ist.

Jetzt sehe ich es auch. Ein dunkelblauer Transporter mit rot leuchtender Aufschrift. »Der Klempner! Ich fasse es nicht, er ist tatsächlich gekommen.«
Die wirkliche Katastrophe war nämlich nicht der ruinierte Computer, sondern der Wassereinbruch, der über Nacht meine Küche in ein Paradies für Annas Laufenten verwandelt hat. Zufrieden schnatternd schaukelten sie auf den Wellen, die ich auf meinem Weg zum Haupthahn in der Speisekammer verursacht habe.
Entsprechend panisch dürfte mein Anruf beim Installateur geklungen und zu dem Wunder geführt haben, das Anna immer noch mit leicht geöffnetem Mund betrachtet. Vor der Haustür steht ein leibhaftiger Handwerker, liest die Nachricht, die ich ihm dort hinterlassen habe, und dreht sich suchend um.

»Er sieht aus wie Thor.« Mit einem entzückten Laut schüttelt meine Freundin ihre Schockstarre ab und streicht die Schürze glatt, unter der sich unübersehbar ein Babybauch wölbt.
»Thor, der Typ mit dem Dauergewitter, oder dieser Schauspieler … wie heißt der noch gleich?«
»Sei nicht albern. Der Gott ist garantiert uralt, ich meine natürlich Chris Hemsworth.« Anna spricht nun mit einem Gurren in der Kehle, das sie sonst nur für ihren Mann übrig hat, doch der ist auf Geschäftsreise, während eine Erscheinung durch die Tür hereinkommt und das Café zur niedlichen Puppenstube in Pastelltönen werden lässt.
Fasziniert sehe ich zu, wie er sich Zeit nimmt, jede von uns mit einem strahlenden Lächeln zu beschenken.
Kurz bleibt sein Blick an Anna hängen, dann sieht er zu mir, und ich lese in seinem Gesicht diesen Ausdruck, der mich nie unberührt lässt. Ganz gleich, wie sehr ich mich darum bemühe. Ja, ich bin sehr blass. Ja, mein Haar leuchtet wie Feuer, ob ich in der Sonne stehe oder nur vor einer Kerze. Ja, Ketchuprot ist meine natürliche Haarfarbe. Ich möchte aber betonen, dass ich noch nie auf einem Besen zum Brocken geflogen bin und das auch nicht tun werde, wie man mir im Zusammenhang mit meinem Äußeren gelegentlich vorschlägt. Dabei wäre es von hier aus per Luftlinie nur eine kurze Reise. Von Magie und Hexenzeugs verstehe ich nämlich überhaupt nichts, und weil mir diesbezügliche Kommentare ziemlich auf die Nerven gehen, besitze ich die wahrscheinlich größte Sammlung von Kopfbedeckungen diesseits der Alpen.

Allerdings hat mir das Hochwasser in meiner Küche die Morgenroutine durcheinandergebracht, deshalb sitze ich hier nun barhäuptig und warte auf eine entsprechende Bemerkung.
Zu Thors Gunsten muss ich sagen, er hat sich erstaunlich schnell wieder im Griff. Den Kommentar, der bestimmt schon auf seiner Zunge gelegen hat, schluckt er runter, lächelt charmant und lässt damit meinen aufkeimenden Groll dahinschmelzen.
»Sie sind Frau …«
»Ich heiße Nu«, unterbreche ich ihn. Mein Nachname wird vollkommen anders ausgesprochen als geschrieben und stürzt die meisten Menschen in Verlegenheit. »Nett, dass du so schnell kommen konntest.«

Anna hebt beide Daumen hinter seinem Rücken, als er vor mir ihr Café verlässt. Sie ist der Auffassung, in meinem Leben fehle ein Mann, und tut deshalb so ziemlich alles, um mich zu verkuppeln. Nachdem es dem Dorf an tauglichen Singles mangelt, versucht sie, mein Interesse an allein reisenden Touristen zu wecken – mit mäßigem Erfolg.
Letzten Monat hatte sie ein Auge auf einen Mann geworfen, der durchaus sympathisch war. Am Ende ist der Typ aber nur so freundlich gewesen, weil er ihren Hof billig kaufen wollte, um darin Luxusferienwohnungen einzurichten. Als sie abgelehnt hat, war er mit seiner blank polierten Limousine schneller verschwunden, als du »Nein, danke!«, sagen kannst.

Zwei Stunden später drehe ich Thors Visitenkarte zwischen den Fingern und überlege, ob ich sie behalten oder lieber wegwerfen soll. Thor, der eigentlich Florian heißt, hat sie mir zum Abschied mit einem einnehmenden Lächeln in die Hand gedrückt.
»Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst«, sagt er, und einen Augenblick denke ich, er will etwas hinzufügen, aber da klingelt sein Handy zum gefühlt hundertsten Mal, und er eilt davon, dass der niedlich geringelte Pelzanhänger an seinem Hosenbund im Wind tanzt. Ich mochte nicht fragen, hoffe aber, dass dafür kein Waschbär sterben musste.

Am Auto dreht er sich noch einmal um und hebt grüßend die Hand. Nett. Ich beschließe, die Karte aufzuheben, und lege sie ins Kästchen auf der Fensterbank, in dem ich alle wichtigen Adressen verwahre, weil einem Computer nicht zu trauen ist. Dabei lausche ich dem Echo des merkwürdigen Summens nach, das in Florians Gegenwart umso intensiver wurde, je näher er mir kam. Eigenartig, aber nicht unangenehm. Hormonsausen oder zeitweiliger Tinnitus, das ist hier die Frage. Herausfinden lässt sich das nur, wenn ich ihn wiedersehe.

Jetzt muss ich mich aber beeilen, um die vertrödelte Zeit aufzuholen. Nachher ziehen neue Gäste in Annas Gästeappartements ein, und ich habe versprochen, ihr beim Bettenmachen zu helfen, weil das mit ihrer Leibesfülle inzwischen zur akrobatischen Übung geworden ist. Anschließend ist Peggy an der Reihe. Annas Highlandpony heißt in Wirklichkeit Pegasus, aber der Name will nicht recht zu ihr passen. Ihre Beine sehen aus, als trüge sie dunkle Strümpfe zu sahnebonbonfarbenem Fell und langer, schokoladenbrauner Mähne. Aus oben genannten Gründen darf Anna nicht reiten, was wiederum schlecht für Peggys Figur ist. Deshalb wurde ich auserkoren, das Tier zu bewegen, obwohl meine Erfahrung auf diesem Gebiet eher bescheiden ist.

»Reiten hilft gegen Tortenpölsterchen«, war Annas Argument, und was soll man dagegen schon sagen?
Dabei kann ich eigentlich essen, was ich will, ohne mir Gedanken über meinen Taillenumfang machen zu müssen. Der ändert sich nie. Ganz gleich, wie lange ich hungere oder wie viel Schokolade ich in mich hineinstopfe. Über die Sache mit dem ergebnislosen Diätmachen kann man immer klagen und wird Leidensgenossinnen finden. Mein Schokoladenbonus hingegen ist nichts, was ich Freundinnen anvertrauen möchte, die fest daran glauben, dass sie einen Kuchen nur anzusehen brauchen, um am nächsten Morgen kugelrund aufzuwachen.
Also tue ich so, als hätte mich Anna überzeugt. Es bleibt mir auch nichts anderes übrig, denn Peggy sieht mich unter langen Wimpern hervor an: Du hast es versprochen!
Das habe ich, und ich halte meine Versprechen. Immer. Deshalb gebe ich ungern welche, aber das Pferd tut mir leid, denn es dreht bald durch in seinem Paddock hinter dem Haus. Ihm fehlen die Ausflüge in die umliegenden Wälder.

Wir sind beide gern unterwegs, wobei es Peggy am Ende des Tages wieder in den heimischen Stall zieht, während ich gar nicht mehr mitzähle, wie oft ich schon umgezogen bin. Alles, was ich besitze, passt in mein Auto. Mehr brauche ich nicht. Den meisten Platz nehmen Zeichenstifte ein, gutes Papier und was man noch als Illustratorin benötigt. Arbeiten kann ich überall auf der Welt.

Es ist reiner Zufall, dass ich diesen Sommer in einem Dorf gelandet bin, das ich hier Blomrode nennen möchte, was so viel wie Blumendorf heißt. Und das passt gut, denn die Fenster der alten Holzhäuser sind mit üppig bepflanzten Blumenkästen geschmückt. Die Einheimischen sagen, dies wäre das Erbe ihrer Vorfahren, die einst als Bergleute aus den Alpen hierher gezogen sind. Blomrode liegt am Ende einer schmalen Straße mit mehr Schlaglöchern, als es Butterblumen auf den umliegenden Hochwiesen gibt, und mitten im Harz, dem sagenumwobenen norddeutschen Mittelgebirge, das vor bestimmt fünfzig Jahren in einen Dornröschenschlaf gefallen ist.

Wenn es nach mir ginge, bliebe dieser Zustand erhalten, obwohl ich Anna und ihrem Mann natürlich viel Erfolg mit dem Café »Kaffeestube« und der Pension wünsche, denn sie haben sich mit dem Umbau des alten Anwesens am Ortsrand ganz schön verschuldet, sagt Anna.

Miete für mein Häuschen will sie trotzdem nicht annehmen. Für die Renovierung, die fällig wäre, um es an Feriengäste vermieten zu können, reicht momentan wohl das Geld nicht, und deshalb sitze ich in einer entkernten Kate, mit fließend Wasser, wie ich heute erlebt habe, aber ohne Strom. Den hole ich mir mithilfe einer Kabeltrommel aus Annas Stall. Eine moderne Heizung gibt es auch nicht. Wenn es wirklich mal frisch wird hier oben, mache ich in dem Holzofenherd Feuer, der das gesamte Häuschen wärmt, sobald man ihn ordentlich füttert.

Während des Handwerkereinsatzes hat Anna das strubbelige Pferd geputzt und gesattelt.
»Ich bin schwanger, nicht krank«, sagt sie, als ich den Mund öffne, um ihr zum tausendsten Mal zu sagen, dass sie sich nicht überanstrengen soll.
Zur Strafe muss ich mir noch einmal sämtliche Verhaltensregeln anhören: »Bleib auf befahrbaren Waldwegen. Folge auf keinen Fall den schmalen Trampelpfaden, die führen über kurz oder lang durch unwegsames Gelände, und dann findet man nicht mehr raus.« Schließlich lässt sie die Zügel los und tritt einen Schritt zurück. »Im Zweifel verlass dich auf Peggy. Sie kennt sich aus.«
Stimmt. Jetzt los! Das Tier nickt und tänzelt neben mir aus dem Stall. Im Hof lässt es mich dann aber problemlos aufsteigen.
»Vergiss nicht, nachzugurten«, ruft mir Anna hinterher. »Die kleine Zicke hat sich schon wieder aufgebläht.«
Wer ist hier die Zicke? Aufgebläht! Pah! Hat sie in letzter Zeit überhaupt mal in den Spiegel geguckt? Peggy dreht ihrer Besitzerin das prachtvolle Hinterteil zu und verlässt mit langen Schritten den Hof.
»Sie ist nicht fett, sondern schwanger, und selbst wenn sie es wäre: Bodyshaming ist fies«, sage ich streng. »Wohin wollen wir eigentlich?«
Feenwald, höre ich Peggys sanft klingende Stimme in meinem Kopf. Jedenfalls glaube ich, dass sie es ist, die mit mir spricht.

(…)

Erfrischt erreichen wir bald darauf den Feenwald. Kühle empfängt uns unter den Bäumen. Vögel zwitschern, und nicht weit entfernt markiert ein Kuckuck sein Reich mit warnenden Rufen. Flirrendes Sonnenlicht, das einen Weg durchs hohe Blätterdach findet, verleiht dem Wald eine magische Stimmung. Kein Wunder, dass die Leute sich von sonderbaren Ereignissen erzählen, die sie hier an warmen Sommerabenden beobachtet haben wollen. Auf den Lichtungen tanze Feenvolk, heißt es, und so mancher, der die anmutigen Geschöpfe heimlich beobachten wollte, wurde in ihr unterirdisches Reich entführt.

Ich liebe solche Geschichten. Besonders, wenn sie die Bevölkerung davon abhalten, einen naturbelassenen Wald wie diesen zu roden. Wie immer, wenn ich hierherkomme, erfasst mich ein eigenartiges Gefühl von Geborgenheit. Dabei sind Wälder, da darf man sich nichts vormachen, ziemlich menschenfeindliche Orte, an denen man besser auf der Hut ist. Annas Warnung, die unbefestigten Waldwege zu meiden, fällt mir ein. Doch was soll schon passieren?

Vom weichen Boden gedämpft, ist Peggys Hufschlag weniger zu hören als zu spüren. Schritt für Schritt sucht sie sich ihren Weg zwischen Felsbrocken und durch die Blaubeeren hindurch, die leider noch nicht reif sind. Felsen liegen mitten auf dem Pfad, der an einen ausgetrockneten Bachlauf erinnert. Die Steine bilden hier und da natürliche Dolmen. Man sagt auch, dass Zwerge die Eingänge zu ihrem Reich hinter Heidelbeerbüschen verbergen. Kein Wunder, dass es im Harz so viele Geschichten über sie gibt, denn an Blaubeerbüschen hat es keinen Mangel. Auf einmal wünsche ich mir, lange genug hierzubleiben, um sie im Spätsommer gemeinsam mit Anna für ihre wunderbaren Torten zu pflücken.

Das Einzige, was ich jetzt noch höre, ist das Knarren des Sattelzeugs und hier und da mal das Stakkato eines Spechts auf Futtersuche. Dann verstummt auch das Klopfen, und ich nehme Peggys Zügel auf.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sage ich leise, als sie mitten in der Bewegung erstarrt. Ich kann ihre Angst sofort spüren. »Wenn du wegrennst, brechen wir uns alle Knochen. Bleib ganz ruhig«, raune ich ihr weit über ihren Hals gebeugt in die Ohren, die sie wechselweise nach vorn richtet, wo verborgen von Felsbrocken etwas lauert, und nach hinten, wohin sie fliehen möchte. Aber nicht mit mir.

Behutsam lasse ich mich hinabgleiten und verknote die Zügel, damit sie sich nicht verheddern kann. Kaum hörbar wispere ich ihr zu: »Ruhig, du Gute. Lass mich jetzt nicht im Stich.« Furchtsam weicht sie ein paar Schritte zurück, bleibt dann aber stehen. Den Kopf hoch erhoben, die Augen weit geöffnet, sodass ich das Weiße darin sehen kann. Der Wald ist ganz still. Nicht einmal den Atem des Windes in den Wipfeln höre ich.

Es riecht nach Magie.

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